ENZEPHALITOZOONOSE BEIM KANINCHEN
In Kürze:
Bei Kaninchen plötzlich auftretende Paresen bzw. Paralysen der Hinterextremitäten mit gelegentlich auftretender Progredienz zur Tetraplegie und/oder plötzlich auftretende Kopfschiefhaltungen unter Umständen mit Drehungen um die Körperlängsachse sowie chronische Polydipsie/Polyurie sind die Kardinalsymptome der Enzephalitozoonose. Eine sofortige, gezielte Behandlung lässt bei einem Großteil der Tiere die Symptomatik innerhalb weniger Tage vollständig abklingen. Es handelt sich um eine Zoonose, um deren Relevanz die KleintierpraktikerInnen wissen und ihre Tierhalter aufklären sollten.
1. Einleitung
Das klinische Bild der Kopfschiefhaltung (Torticollis) beim Kaninchen – englisch ´head tilt` oder ´screwneck disease` - wird gelegentlich bei Heimkaninchen in der Kleintiersprechstunde, bei Tieren in der Rassekaninchenzucht, in Versuchstierhaltungen sowie bei solchen in landwirtschaftlichen Produktionsbetrieben beobachtet.
Neuere Untersuchungen zeigen, daß außer den Infektionen durch Pasteurella multocida und Psoroptes cuniculi vor allem Protozoeninfektionen ursächlich dem Krankheitsgeschehen zugrunde liegen (KUNSTYR et al., 1986; FEHR und MEYER-BRECKWOLDT, 1997; EWRINGMANN und GÖBEL, 1998).
Die zu den Mikrosporidien gehörende, weltweit verbreitete Protozoe Encephalitozoon cuniculi ist ein intrazellulär parasitierender Einzeller, der einkernige, ellipsoide Sporen von 2,5 x 1,5 µm Größe bildet. Wird eine derartige Spore von Kaninchen oral aufgenommen, so stülpt sich im Darm der Polfaden aus und penetriert die Darmwand. Durch den hohlen Polfaden kriecht das einkernige Sporoplasma aus und gelangt so ins Innere von Wirtszellen. Nach einer Vermehrungsphase wird der Parasit hämatogen in nahezu alle Organe verteilt, wobei der Be-fall der Niere besonders ausgeprägt ist. Reife, infektionsfähige Sporen werden mit Urin und Kot ausgeschieden. Die Übertragung kann somit oral, nasal, oronasal sowie auch transplazentar erfolgen. Neben Kaninchen können auch Mäuse, Ratten, Meerschweinchen, Hamster, Ziegen, Schafe, Schweine, Pferde, Hunde, Füchse, Katzen und viele Primaten unter Einschluß des Menschen befallen werden (MEHLHORN et al., 1993). Die Infektion mit Enzephalitozoon ist folglich eine Zoonose. Der Erreger wurde erstmals 1922 aus dem Gehirn eines Kaninchens isoliert und beschrieben (LEVADITI et al., 1923) und als Ursache spontaner Paralysen bei Kaninchen erkannt. In den letzten zehn Jahren hat Enzephalitozoon eine erhebliche Bedeutung gewonnen bedingt durch die Infektionsgefahr immungeschwächter Menschen (HIV-Patienten), bei denen Enzephalitozoon als opportunistischer Parasit bewertet wird (SCHWARTZ et al., 1994).
2. Symptomatik
Beim Kaninchen können drei Stadien der Erkrankung unterschieden werden:
2.1. chronisch latente Infektion
Mithilfe eines Tuschetests können gegen Enzephalitozoon gerichtete Antikörper im Serum von Kaninchen nachgewiesen werden. Sowohl bei klinisch gesunden Heimtieren (FEHR und MEYER-BRECKWOLDT, 1997; EWRINGMANN und GÖBEL, 1998) als auch bei Versuchstieren (SCHARMANN et al., 1986) europäischen oder australischen Wildkaninchen (WILSON, 1979; CHALUPSKY et al., 1990; THOMAS et al., 1997) konnten positive Antikörpertiter ermittelt werden, ohne daß bei den seropositiven Tieren klinische Symptome zu beobachten waren. Die Antikörperprävalenz klinisch gesunder Tiere unterliegt je nach Kaninchenpopulation sehr großen Schwankungen und wird in der Literatur bis hin zu 100 % angegeben (KUNSTYR et al., 1986).
2.2. akuter Krankheitsverlauf
Der akute Krankheitsverlauf ist gekennzeichnet durch einen plötzlich auftretenden Torticollis, häufig in Kombination mit einem Opisthotonus, bedingt durch Enzephalitis und/oder Meningitis, Nephritiden sowie Paresen oder Paralysen der Nachhand. In seltenen Fällen können auch plötzliche Todesfälle auftreten. Das klinische Bild zeichnet sich ab durch
1. ZNS-Symptome wie Schreckhaftigkeit, Kopfschiefhaltung, Nystagmus,
anfallsweises Sichdrehen um die Körperlängsachse, Ataxien, Seitenlage, Verzögerung bzw. Ausfall der Pupillarreflexe, Uveitis, ein- oder beidseitige Nachhandlähme mit möglichem Übergang zur Tetraplegie;
2. Polydipsie/Polyurie-Komplex infolge einer Niereninsuffizienz mit erhöhten
Nierenwerten für Harnstoff (> 40 mg/dl), Kreatinin (> 2 mg/dl) und Kalium (> 21 mg/dl) sowie
3. unspezifische bzw. Folgesymptome wie Inappetenz, Apathie, renale
Osteodystrophie und pathologische Frakturen sowie veränderte Blutwerte (Leukozytose, Hyponatriämie, erhöhtes GOT sowie erniedrigte Werte für Hämoglobin, Erythrozyten und Hämatokrit).
2.3. chronischer Krankheitsverlauf
Je nach Ausmaß der akuten Krankheitsphase, den Nieren- bzw. den ZNS- Schäden bleiben die Kaninchen in der Regel chronisch infiziert, wenngleich bei frühzeitig und intensiv durchgeführter Therapie eine klinische Heilung in 55 % der Fälle beschrieben wurde (EWRINGMANN und GOEBEL, 1998). Gelegentlich bleiben Bewegungsstörungen der Nachhand oder von Vor- und Nachhand als Restschäden der akuten Infektion zurück, wobei die Tiere ansonsten wieder bei gutem Allgemeinbefinden, mit gutem Appetit und normalem Verhalten auch anderen Tieren/Artgenossen gegenüber sind.
3. Diagnostik
Die Diagnostik einer Infektion mit Encephalitozoon cuniculi geschieht in drei Schritten, und zwar wird der Verdacht in erster Linie aufgrund des klinischen Bildes erhoben. In zweiter Linie kann der Verdacht durch eine allgemeine labordiagnostische Untersuchung erhärtet bzw. abgeschwächt werden. Dabei sollten folgende Blutparameter ausgewertet werden: Nierenwerte (Harnstoff, Kreatinin, Kalium), Blutbild (Leukozyten, Erythrozyten, Hamatokrit, Hämoglobin) und Leberwerte (GOT). Sollten die Blutwerte deutliche Hinweise auf eine E. cuniculi-Infektion liefern, bietet sich eine spezifische Labordiagnostik im dritten Schritt an. Mittel der Wahl ist die Tusche-Immunreaktion: Der Test beruht darauf, daß die Immunglobuline eines positiven Serums an die Kohlepartikelchen der Tusche absorbiert werden. Die so markierten Antikörper haften an der Oberfläche der E. cuniculi-Sporen und machen sie mikroskopisch sichtbar. Der Test kann auch zum Nachweis von Sporen im Urin verwendet werden. Die Ausscheidung von Sporen über den Urin ist jedoch abhängig vom Befall der Nieren, so daß die serologische Untersuchung der sicherere Test ist.
4. Therapie
Die Therapie der E. cuniculi-Infektion besteht aus:
1. Antibiose: Oxytetrazyklin (20 mg/kg KM s.c./d über 14 Tage) (EWRINGMANN und GÖBEL, 1998)
oder: Sulfonamid-Trimethoprim (20 mg/kg KM s.c./d über 14 Tage) (FEHR ,1997)
oder: Chloramphenicol (30 mg/kg KM s.c.) überwindet die Bluthirnschranke.
2. Antiphlogistikum: Dexamethason (0,2 mg/kg KM s.c./d)
oder: Prednisolon (2 – 1 mg/kg KM s.c./d)
3. Vitamin-B-Komplex (0,5 ml/kg KM s.c./d)
4. Infusionen (z.B. Sterofundin 40 ml/kg KM s.c./d)
5. bei Uveitis zusätzlich lokal tetrazyklin- und kortisonhaltige Augensalben mehrmals täglich im Wechsel.
6. Antiparasitikum Fenbendazol (Panacur® Suspension 10 % für Hunde; 0,2 ml/kg Kaninchen 1 x täglich oral über 20 Tage)
In der Regel führt bei Früherkennung eine Therapie in den ersten 24 Stunden zu einer deutlichen Besserung des Krankheitsbildes, mindestens jedoch zu einem Stillstand der Progredienz der neurologischen Symptome. Gelegentlich werden in den ersten zwei bis drei Tagen Verschlechterungen des Krankheitsbildes beobachtet. Eine Therapie sollte jedoch dann fortgesetzt werden, wenn die Tiere appetent sind und Kot- und Harnabsatz funktionieren. Meist gibt es eine deutliche Erholung am dritten bis fünften Therapietag, so dass die meisten Patienten nach einer Woche vollständig wiederhergestellt sind.
Sollte sich trotz der aufgezeigten Therapie das Krankheitsbild weiterhin drastisch verschlechtern und insbesondere die enzephalitisbedingten Symptome zunehmen, ist die Prognose schlecht – jedoch nicht grundsätzlich infaust – und aus Tierschutzgründen eine Euthanasie abzuwägen.
5. Diskussion
Kaninchen werden häufig – gelegentlich auch Meerschweinchen – mit einer für Encephalitozoon cuniculi-Infektion entsprechenden Symptomatik in der Kleintiersprechstunde vorgestellt. Aufgrund der derzeitigen Kenntnisse über Ätiologie und Pathogenese dieser Erkrankung wird die behandelnde Tierärztin/der behandelnde Tierarzt in die Pflicht genommen, im Einzelfall der Problematik diagnostisch und therapeutisch nachzugehen. Differentialdiagnostisch sind Traumata sowie Listeriose, Borna-Infektion und Toxoplasmose abzuwägen (KUNSTYR et al., 1986).
Die zunehmende Aufgeklärtheit der Tierhalter über artgerechte Tierhaltung bringt heutzutage mit sich, daß Kaninchen und Nagetiere in zunehmendem Maße auch Gartenbewohner sind, sei es ganzjährig oder auch nur in der warmen Jahreszeit. Diese ansonsten sehr zu begrüßende Entwicklung birgt das Risiko, daß durch andere Tierarten (Katze, Marder, etc.) sowie möglicherweise auch durch Wildkaninchen die Protozoen unter den Heimkaninchen stärker verbreitet werden. Aber auch bei ausschliesslich im Haus gehaltenen Kaninchen wird die Enzephalitozoonose beobachtet. Hier dürften wohl die Erreger über das Futter eingeschleppt werden.
Die Feststellung, daß in Seren vieler untersuchter Kaninchenpopulationen in unterschiedlichem Grade positive Antikörpertiter aufzufinden waren, läßt schließen, daß möglicherweise dieser opportunistische Parasit weit verbreitet ist und im Zusammenhang mit anderen streßinduzierten Einflüssen eine akute Erkrankung bewirkt. Folglich sollte im Falle einer diagnostizierten Infektion mit E. cuniculi auch das weitere Umfeld des Patienten betrachtet werden, d.h. auch andere Erkrankungen bishin zu Haltungs- und Verhaltensproblemen sollten hinterfragt werden.
Eine Prophylaxe gibt es nicht.
6. Literatur
CHALUPSKY, J., J. VAVRA und J.GAUDIN (1990)
Mise en evidence serologique de la presence d‘ encephalitozoonose et de toxoplasmose chez le lapin de Gareene (Oryctolagus cuniculus) en France
Bull. Soc. Franc. Parasitol. 8: 91 - 95
EWRINGMANN, A., und Th. GÖBEL (1998)
Neue Aspekte zur Klinik und Therapie der Encephalitozoonose beim Hiemtierkaninchen
Tagungsband der 7. Jahrestagung der Fachgruppe Innere Medizin und Klinische Labordiagnostik der DVG vom 26. - 29. März 1998 in München
FEHR, M. (1997)
- mündliche Mitteilung -
FEHR, M., und A. MEYER-BRECKWOLDT (1997)
Untersuchungen zur Encephalitozoonose beim Kaninchen
Tagungsband der 10. Arbeitstagung über Haltung und Krankheiten der Kaninchen, Pelztiere und Heimtiere der DVG-Fachgruppe Kleintierkrankheiten vom 14. – 15. Mai 1997 in Celle, S. 264 - 268
KOUDELA, B., J. LOM, J. VITOVEC, Z. KUCEROVA, O. DITRICH und J. TRAVNICEK (1994)
In Vivi Efficacy of Albendazole against Encephalitozoon cuniculi in SCID Mice
J. Euk. Microbiol. 41(5): 49S
KUNSTYR, I., S. NAUMANN und F.-J. KAUP (1986)
Torticollis beim Kaninchen: Ätiologie, Pathologie, Diagnose und Therapie
Berl. Münch. Tierärztl. Wschr. 99: 14 – 19
LEVADITI, C., S. NICOLAU und R. SCHOEN (1923)
L` étiologie de l` encéphalite
Comptes rendus hebdomadaire de séances de l` Académie des Sciences, Paris. 177: 985 - 988
MEHLHORN, H., D. DÜWEL und W. RAETHER (1993)
Diagnose und Therapie der Parasitosen von Haus-, Nutz- und Heimtieren
Gustav Fischer Verlag, Stuttgart, Jena, New York
SCHARMANN, W., L. REBLIN und W. GRIEM (1986)
Untersuchungen über die Infektion von Kaninchen durch Encephalitozoon cuniculi
Berl. Münch. Tierärztl. Wschr. 99: 20 - 25
SCHWARTZ, D.A., R.T. BRYAN und G.S. VISVESVARA (1994)
Diagnostic Approaches for Encephalitozoon Infections in Patients with AIDS
J. Euk. Microbiol. 41(5): 59S
THOMAS, C., M. FINN, L. TWIGG, P. DEPLAZES und R.C.A. THOMPSON (1997)
Microsporidia (Encephalitozoon cuniculi) in wild rabbits in Australia
Aust. Vet. J. Vol. 75/11: 808 – 810
WEISS, L.M., E. MICHALAKAKIS, C.M. COYLE, H.B.TANOWITZ und M. WITTNERT (1994)
The In Vitro Activity of Albendazole Against Encephalitozoon cuniculi
J. Euk. Microbiol. 41(5): 65S
WILSON, J.M. (1979)
Encephalitozoon cuniculi in wild rabbits and a fox
Res. Vet. Sci. 26: 114
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