Anorexie bei Kaninchen und Nagern
Kaninchen, Meerschweinchen und kleine Nagetiere – Chinchilla, Degu, Ratte, Maus und Hamster - sind Pflanzenfresser, die ihre Nahrung über den ganzen Tag und die ganze Nacht verteilt in kleinen Mengen aufnehmen mit maximaler Aktivität in den Dämmerungsphasen, also am Morgen und am Abend, so dass der Magen immer einen guten Füllungszustand aufweist. Dabei wird die Nahrung mit den Schneidezähnen abgerissen oder abgebissen und mit den Backenzähnen vermahlen. Nur durch die erneute Futteraufnahme wird reguliert, dass das Futter aus dem Magen weiter in den Darm transportiert wird, wo die eigentliche chemische und bakterielle Aufspaltung stattfindet, nämlich die Verdauung. Der Nahrungsaufnahme entsprechend sieht auch die Ausscheidung der Endprodukte aus: ein mehr oder weniger kontinuierlicher Absatz von Kotpellets als Restkot sowie ein überwiegend nächtliches Absetzen des Blinddarmkotes mit dessen unmittelbar darauf stattfindender erneuter Aufnahme durch das Tier selbst. Von diesem Nahrungsaufnahme- und Kotabsatzverhalten kann es durch völlig unterschiedliche Ursachen Abweichungen geben, die im Folgenden dargestellt werden.
Was ist Anorexie?
Die Anorexie ist nach Pschyrembel „die Herabsetzung des Triebs zur Nahrungsaufnahme“. Das trifft überein mit dem ersten Eindruck des Tierbesitzers, wenn er unerwartet feststellen muss, dass sein Tier das vorgelegte Futter nicht wie üblich gefressen hat. Komplizierter wird die Angelegenheit, wenn mehrere Tiere zusammen gehalten werden, so dass nicht so offensichtlich wird, dass ein einzelnes Tier nicht frißt. Häufig entsteht dieser Eindruck erst beim Herausnehmen des Tieres durch die Erkenntnis eines deutlichen Gewichtsverlustes, der jedoch niemals kurzfristig – „über Nacht“ - entsteht, sondern hinweisend darauf ist, dass das Tier schon über einen längeren Zeitraum unzureichend frisst.
Was führt zur Anorexie?
In 90 % aller Fälle haben Kaninchen, Meerschweinchen und kleine Nager Zahnschmerzen, die per se die Nahrungsaufnahme hemmen. Das physiologische Abmahlen und somit Kürzen der permanent wachsenden Schneide- und Backenzähne geschieht nur unzureichend oder gar nicht mehr mit der Folge von schief abgenutzten Kauflächen mit Zahnspitzen, die in die Mundschleimhaut oder in die Zunge einspießen und zu schmerzhaften Verletzungen in der Mundhöhle führen. Es handelt sich also um Zahnprobleme, die in Ursache und Auswirkung(en) großen Variationen unterliegen können. Typisch ist, dass die Tiere im Vorfeld 1. selektiv weiches Futter vermehrt und hartes, intensiv zu vermahlendes Heu vermindert aufnehmen, 2. weiterhin auch großen Hunger zeigen, in dem sie sich für das angebotene Futter interessieren, es dann aber nicht aufnehmen können, und sich 3. beim Päppeln gierig auf die Päppelspritze stürzen. Summa summarum bleibt der Appetit bestehen, also die Appetenz ist erhalten: Das Tier will fressen, kann aber nicht.
Anders verhält es sich in den verbleibenden 10 % aller Fälle von Anorexie, wenn das Tier sich gar nicht für das Futter interessiert und selbst bei Lieblingsfuttermitteln keinerlei Interesse zeigt: hier liegt eine Inappetenz vor, die durch innere Erkrankungen verursacht wird, die mit Schmerzen, Übelkeit, Untertemperatur, Fieber oder auch Atemnot einhergehen: Das Tier will nicht fressen und zieht sich zurück.
Anorexie durch Zahnprobleme
Bei Kaninchen, Meerschweinchen, Chinchillas und Degus wachsen alle Zähne (Schneide- und Backenzähne) ein Leben lang, bei Ratten, Mäusen und Hamstern nur die Schneidezähne. Folglich tritt bei den zuerst genannten Tieren häufiger das Problem der infolge von Zahnschmerzen unzureichend abgemahlenen und somit überlangen Zähne auf. In der Regel liegt die Ursache in der Wurzelentzündung eines einzelnen Backenzahnes, gelegentlich in einem überlangen, retrograd gewachsenen Backenzahn. Dabei wächst der Zahn in die falsche Richtung und tritt mit entzündlichen Begleiterscheinungen aus dem Kieferknochen aus, vergleichbar mit einem Dorn im Finger, der bekanntermaßen auch eine Entzündung des Umfeldes mit der Folge eines Abszesses provoziert. So lassen sich die weithin bekannten Kieferabszesse in der Entstehung erklären, die sowohl am Unterkiefer auftreten und nach Lokalisation und Entfernung des verursachenden Zahnes heilbar sind als auch am Oberkiefer mit tendenzieller Beteiligung des jeweiligen Auges, da die Zahnwurzeln der letzten Backenzähne unmittelbar unter der Augenhöhle lokalisiert sind.
In schweren Fällen kann zudem eine Knochenkrankheit (Osteodystrophie) vorliegen, die mit dem Abbau des normalen Kieferknochens einhergeht, so dass das harte Zahnmaterial retrograd in den Kiefer hinein gedrückt wird.
Nicht selten gibt es auch eine eitrige Wurzelentzündung eines Backen- oder Schneidezahnes, bei der der Eiter von der Wurzel aus mundhöhlenwärts am Zahn entlang wandert und den Zahn dabei im Zahnfach lockert. Ein loser Zahn verursacht immer Schmerzen, kann jedoch aufgrund der Eiterspuren leicht erkannt und in der Regel gezogen werden.
Besonders bei Meerschweinchen können pathologische Prozesse an den Zahnwurzeln zu übergroßen Backenzähnen führen, die durch Druck in dem zu engen Zahnfach Schmerzen bereiten und meistens auch längere Wurzelareale auf Röntgenbildern erkennen lassen. Im Unterkiefer können solche Problemzähne entfernt werden, im Oberkiefer gestaltet sich die Sache problematisch, da die Oberkieferbackenzähne rund gewachsen sind und deshalb aus mechanisch-technischen Gründen nur schwer bis gar nicht gezogen werden können.
Anorexie durch innere Erkrankungen
Durch Erkrankungen der inneren Organe kann es zu Schmerzen, Übelkeit, Untertemperatur, Fieber oder Atemnot kommen, was in zunehmendem Maße auch zu Inappetenz und letztendlich zu einer Anorexie führt. Der erste Eindruck dürfte für den Tierhalter eine abnehmende Aktivität und Bewegungslust bei zunehmender Zurückgezogenheit bis hin zur Apathie sein. Bei genauer Betrachtung lassen eine verspannte und/oder für das Tier ungewöhnliche Körperhaltung, Zähneknirschen oder Schmerzlaute bei Harn- und/oder Kotabsatz auf Schmerzen schließen. Mit erheblichen Schmerzen können Erkrankungen des Harntraktes einhergehen, wobei Entzündungen oder Steine in Nieren, Harnleitern, Blase und Harnröhre zu heftigsten Koliken führen können. Ebenfalls können akute oder chronisch immer wiederkehrende Unterleibsschmerzen durch entzündliche oder tumoröse Prozesse an der Gebärmutter und/oder an den Eierstöcken zu unterschwelligen, dauerhaften Schmerzzuständen oder auch akuten Koliken führen.
Wenn auch Kaninchen und Nagetiere generell nicht erbrechen können, eine Übelkeit können sie dennoch empfinden. Diese tritt bei Erkrankungen der Leber im fortgeschrittenen Stadium auf und ist in der Regel therapieresistent. Im Zuge von Verschlüssen des Magens oder Darms durch Haaransammlungen (Bezoare), feststeckende Fremdkörper oder den Darm komprimierende Tumore entsteht das Bild des Darmverschlusses (Ileus) mit Übelkeit, vermehrter Wasser- und eingestellter Futteraufnahme.
Durch akute Herz-Kreislaufschwächen sowie bei Vergiftungen kommt es zur Untertemperatur durch einen Abfall der Körpertemperatur unter 36 °C. In diesem Zustand wird die Nahrungsaufnahme ebenso eingestellt wie auch bei Fieber über 40 °C, verursacht durch hohe Umgebungstemperaturen im Sommer (Hitzschlag), akutes Nierenversagen oder akute Wurmfortsatzentzündung (Appendizitis) des Kaninchens bei Pseudotuberkulose (Rodentiose, Nagerpest).
Durch Einengung der Lungen und damit einhergehender Reduzierung des Atmungsraumes, bedingt durch Infektionen des Atmungstraktes oder durch tumoröse Prozesse, kann es zur Atemnot des Tieres kommen, was sich deutlich angestrengter Atmung zeigt. In gesteigertem Zustand wird der Kopf in den Nacken gelegt und im Finalstadium durch den Mund geatmet. Eine Nahrungsaufnahme ist dem Tier in diesem Stadium auf keinen Fall mehr möglich.
Kaninchen und Nagetiere zeigen immer erst in fortgeschrittenen Krankheitsstadien Symptome, um nicht als krank erkannt und aus der Tiergruppe ausgestoßen zu werden. Folglich ist jedes veränderte Futteraufnahmeverhalten eines Tieres immer ein Anlass für eine gründliche Untersuchung und Hinterfragung der vielfältig möglichen Ursachen. Eine länger als zwei bis drei Tage andauernde Anorexie führt bei diesen Tierarten bereits zu einer inneren Vergiftung (Ketose) mit der Folge von Untertemperatur. Daher muss jedes Tier mit Anorexie baldmöglichst dem Tierarzt vorgestellt werden, um die Ursache abzuklären und das Tier entsprechend behandeln zu lassen.
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